Liturgische Körper – Arbeit am Gottesdienst

Liturgische Körper – Arbeit am Gottesdienst

  1. Person

Gottesdienst aller Art lebt von den Menschen, die ihn teilen, leiten, feiern.

Die exponierten und die mitgehenden Personen begeben sich mit ihrer ganzen Figur in diesen verdichteten Raum symbolischer Handlung und deutender Rede. Damit sind sie selbst liturgische Ausdrucks-Körper mitsamt ihren wechselnden Zuständen. Sie stecken einander an mit Affekten aller Art, mit Konzentration oder Langeweile, Freude oder Depression. Wie von dem Arzt Prof. Joachim Bauer ausgewiesen, kann man diese ‚Ansteckung‘ biologisch durch die Anregung der sog. Spiegelneuronen erklären. Das zieht dies Phänomen aus dem Bereich des esoterisch Spekulativen. Man weiß längst, dass aus Reiz und Reaktion, Gegenreaktion usw. eine Dynamik entstehen kann, die ihrerseits eine Art Eigenleben entfaltet. Diese Regungen sind nicht Thema des Gottesdienstes, aber sie wirken in hohem Maß –  oft mehr als die gesetzten Inhalte.

Die Übungen und Forschungen zur liturgischen und geistlichen Präsenz gelten Gruppen und Einzelpersonen. Diese Disziplin nimmt ernst, dass alle Beteiligten sich prinzipiell mit ihrer spirituellen Haltung sichtbar für andere aussetzen –  das aber graduell verschieden. Sie verlassen die Intimität der privaten Frömmigkeit bewusst, so dass man ihnen ‚beim Frommsein zuschauen‘ kann. Der klassische Raum der Prozessionskirche schützt die Gläubigen vor zudringlichen Blicken, indem er alle nach vorn ausrichtet, aber er exponiert um so mehr die frontal agierenden Personen. An ihnen soll sichtbar und spürbar werden, ‚wie man geistlich ist‘. Die Leitenden sind stellvertretend und ausgesetzt fromm. Von ihrer Art, temperamentvoll, langsam, schlicht, üppig, nervös, bewegt zu agieren nimmt die fromme Seele in der Bank das menschlich-geistliche Muster ab, das in diesem Raum gilt. Und das überträgt sich nicht nur durch die Worte, sondern oft sehr viel schneller, direkter und unbewusster über den Körper. Allein die Stimme bereitet z.B. Wohlbehagen, Kopfweh, Nervosität o.ä.. Der körperliche und mentale Zustand der Leitung ist also ein wichtiges Instrument. Es kann umfassend von Freude gesprochen worden sein, aber die führenden Personen waren dabei müde, und es wird als Ergebnis Müdigkeit aus dem Raum getragen – oder Ärger über die Müdigkeit oder Einverständnis oder was immer, aber wenig Freude.

Die Arbeit an den Personen will diese Zustände bewusster machen und nutzen. Denn unbewusste Mentalitäten können der ‚Sache‘ schaden, egal welche es sind; sie können den Inhalten ‚ins Wort fallen‘. Besser agiert, wer weiß, was er tut und wie er wirkt. Das gilt ja nicht nur im Gottesdienst.

Ein wesentliches Element ist die Reaktion der übenden Gruppe (Vikarinnen und Vikare, Pastorinnen und Pastoren, Ehrenamtliche) auf im Labor präsentierte liturgische und homiletische Stücke.

An ihnen kann sich die Protagonistin orientieren. So genau wie von dieser ‚Laborgruppe‘ bekommt sie sonst selten Auskunft in der Gemeinde. Aufgrund der Resonanzen kann jemand also Haltungen korrigieren und versuchen sie dem Inhalt anzupassen. Das heißt sich von außen nach innen formen lassen. Oder sie kann die momentane persönliche Stimmung bewusst aufnehmen und in eben diesem Zustand  eine Geste, ein Wort oder einen Gesang zelebrieren, also von innen nach außen ein vorgeformtes Teil ‚einfärben‘. So entsteht in beiden Fällen mehr Kongruenz. Und die wird in der Regel von allen als befreiend erlebt – allein schon deshalb, weil man als Hörer die Diastase aus Befindlichkeit und Aussage bei der Pastorin nicht mühsam kompensieren muss.

Die Übungen erlauben weiterhin, geistliche Aspekte im Raum abzubilden. Jemand kann sich z.B. beim Segen hinter die Agierende stellen und sie unterstützen. Mit etwas Fantasie kann man sich diese Figur als eine Art ‚Engel‘ vorstellen, die den mit den Händen segnet, der seinerseits die Gemeinde segnet. So wird die spirituelle Logik in diesem liturgischen Teil etwas deutlicher: Der Segnende gibt weiter, was er gleichzeitig empfängt.

Das alles ist als übendes Verfahren bekannt aus den darstellenden Künsten. Neu ist, dass Gottesdienst-Leitende sich in großer Zahl dem interessiert aussetzen und daraus Gewinn für ihre Berufs- oder Rollenidentität ziehen. Man kann das ausweiten zu einem Lehrgang in Mystagogie (z.B. nach Josuttis) oder es einfach auffassen als Handwerkszeug.

Im Ergebnis zieht der so gebildete Geistliche keine neuen Massen an, nur weil er oder sie virtuoser zelebriert. Aber die eigene Zufriedenheit wächst und meist auch die der Gemeinde. Jedenfalls kann man merken: Frömmigkeit ist nicht zweigeteilt, sondern sie hat einen kongruent agierenden liturgischen Leib. Und es besteht die Chance, dass im Raum des Gottesdienstes nicht nur etwas behauptet oder zitiert wird (‚Freude!‘), sondern dass es im selben Raum spürbar eintritt. Das wäre an vielen Orten eine neue Erfahrung.

  • Raum

Der Raum ist ein anderer wesentlicher liturgischer Körper. Er prägt das Geschehen mindestens so stark wie die Personen. Der Raum ist zu Stein geronnene Theologie bzw. Ekklesiologie. Ob man direkt oder indirekt kommuniziert beim Gottesdienst, in welchen Abständen man vom Zentrum sitzt, welche Gebets- und Gesangsrichtungen u.a. durch den Raum festgelegt sind –  all das prägt die geistliche Praxis spielentscheidend.

Seit ca. 30 Jahren, also ähnlich lange wie um die Wachheit des geistlichen Personals, kümmert sich die Evangelische Theologie um Begründungen für Raumkonzepte –  auch weil Kirchbauten neu genutzt oder umgebaut werden (müssen).

Der frontale Aufbau des Raums mit seiner hierarchischen Struktur und seiner Distanz zum Zentrum ist der im Kirchbau vorherrschende. Er erlaubt einfach zugängliche und altbewährte Meditation. Man kann für sich allein sein, selbst wenn andere da sind – ähnlich wie im Wald. Dasein ohne Leistung oder Beobachtung ist eine Sehnsucht, der dieser Raum entgegenkommt. Man nähert sich  –  so die Logik der Prozessionskirche – durch das Schiff von hinten nach vorn dem ‚Heiligen‘ an –  das tut auch die Liturgie durch ihren Eingangs- und Wortteil bis hin zum Mahl, das die größtmögliche Nähe zelebriert. Faktisch sitzt man aber fixiert auf Abstand.

Wenn sich 5-30 Menschen im 100-Menschen-Kirchenschiff in homogener Dichte verteilen und auf freier Platzwahl bestehen, dann muss die Frage erlaubt sein, ob das noch Sinn macht. Gemeinde-Gesang ist z.B. dann kaum noch möglich. Diese Form wird aber als so selbstverständlich empfunden, dass allein die Frage irritiert, ob man auch anders sitzen und damit ein anderes Bild von Gemeinde  (und von Gott)  abbilden könnte.  Jahrhundertealte Gewohnheiten nordeuropäischer Frömmigkeit wirken. Hier gibt es noch viel zu entdecken. Das ist ein Generationenprojekt. Einige weitere Andeutungen im Hinblick auf den Raum mögen hier genügen. Manche Gemeinden haben sich bereits (mindestens in der Winterkirche) auf den Weg gemacht.

Um es deutlich zu sagen: die Frontal-Form ist sinnvoll. Es wird sie zu Recht immer geben. Wenn Gemeinden aber keine anderen Raum-Formen denken können, die ihrer und der Wandlung im Gottesbild auch entsprechen, dann ist es bedenklich.

Tabellarischer Überblick der gängigsten Raum-Konzepte

  • Der frontale Aufbau der Sitzanordnung. Bänke stehen ausgerichtet nach Osten, dem Ort der aufgehenden Sonne – gleichbedeutend  mit dem  auferstehenden oder wiederkehrenden Christus: Orient – Orientierung. Diese Ordnung  deutet das ausstehende Heil an und provoziert den Gestus von Ehrfurcht vor dem Unzugänglichen und  Erwartung in Gesang, Anbetung und Ausrichtung ‚nach vorn’ oder gar ‚nach draußen’ in die Ferne der ausstehenden Ankunft. Diese Anordnung inszeniert Abstand. Es gilt die klare Hierarchie der Werte: Was vorne ist, ist wichtiger als das hinten. Deshalb setzen sich Leute in solchen Kirchen instinktiv nach hinten. Gleichzeitig ordnen die Bänke den Raum so zwingend, dass es kein Ausweichen gibt. Das diszipliniert und entlastet – und ergibt bei ungeübten Menschen oft den Eindruck, man werde hier ausgerichtet und indoktriniert. Die Distanz zwischen hinten und vorn hat eine Entsprechung untereinander: Man schaut sich bei der Glaubensausübung nicht zu, sondern nimmt einander eher indirekt wahr. Der Mitchrist dient meiner Erbauung nicht oder nicht direkt, höchstens dadurch, dass er gekommen ist und im Gesang. Klassisches Argument: „Das ist auch gut so, das würde mich nur ablenken, wenn ich andere genauer sehen könnte.“

  • Der Aufbau im Halbkreis deutet die Präsenz des Heils (meist durch den Altartisch bezeichnet) in unserer Mitte an – bei offener Haltung hin zum Unverfügbaren dahinter (Kruzifix, Fenster usw). Das inszeniert Halbdistanz. Menschen reagieren darauf instinktiv mit der Platzwahl weiter vorn. Nach vorne hin ist auch Aufbruch denkbar. Gleichzeitig kann von da etwas einfallen. Man nimmt die anderen und sich darin deutlicher als Gemeinschaft wahr.  Die Mitchristin kann mir möglicherweise durch ihren liturgisch mitagierenden Körper zur Erbauung dienen. ‚Das Heilige‘ rückt näher und gerät eher in einer Art ‚Wohnzimmer-Atmosphäre‘. Es ist  habhafter, kleiner und provoziert weniger Ehrfurcht. Man muss anderen gelegentlich beim Glauben zusehen und kann dadurch abgelenkt oder erbaut werden.

  • Der Kreis feiert das Heil in der Mitte, fokussiert die Gemeinde  und hält das Unverfügbare quasi über allen offen – meist in entsprechend konstruierten Kirchen durch einen Lichtschacht über dem Altar. Das inszeniert Nähe – auch Nähe zueinander. Ihm entspricht ein Gottesbild, das uns aus der Mitte eint (z.B. im Mahl). Die symbolisch dargestellte Transzendenz ist auf der horizontalen Ebene schwer zu ermitteln. Da sitzen andere Menschen neben dem Altar. Kreisräume lösen das gelegentlich, indem sie über der Mitte den Raum als Kuppel oder  Zelt aufsteigen lassen.

  • Die Ellipse hält die Spannung offen zwischen rechts und links, zwischen vorn und hinten. Altar und Ambo auf den Brennpunkten der Ellipse zeigen die Polarität und Einheit von Wort und Sakrament. Diese Anordnung inszeniert Dialog innen und außen. Das Bild der Gegenwart Gottes ist der Dia-Logos, also das trinitarische Gespräch, in das man als Gemeinde gerät. Das ist eine spannungsreiche Figur, die Vertrautheit mit dem Heiligen voraussetzt und fördert, es aber gleichzeitig in einer Art fließenden Hin- und Her-Prozess darstellt. Man trifft sie in Predigerseminaren und anderen konventikelartigen Versammlungen.  Die Hierarchie ist hier fast aufgehoben. Die katholische Kirche in Westerland auf Sylt z.B. ist als ‚Schiff-Ellipse‘ gebaut und hat in der Mitte  – außer Ambo und Altar  – ein begehbares Taufbecken in der Erde.

Ein Beispiel von Neuorientierung des Raumes und im Raum:

Die Kirche der Stille in Hamburg, www.kirche-der-stille.de . Man hat diese Kirche 2008 verkürzt, neu zentriert, alle Sitzmöbel herausgenommen und die Erde als Platz eröffnet. Man kann Stühle oder Kissen nach eigener Wahl aufstellen. Von ca 300 Erziehenden (u.a. aus Schulen und KiTas), die dort in Methoden für Stille mit Kindern unterrichtet werden, äußerten sich ca 250 ungefragt sehr angetan über die Freizügigkeit dieses Raumes. Hier ‚müsse‘ man ja nichts, sondern hier ‚dürfe‘ man sein. „So ist Kirche schön für mich!“ Etliche nutzen den Ort nun als ‚Ihre‘ Kirche, kommen auch außerhalb des Dienstes wieder, begehren Taufen usw…

Bislang haben die kirchentreuen Menschen mit ihrer (meist distanzierten) Frömmigkeit das frontal orientierte Raumerleben geprägt. Ein Erlebnis wie das in der Kirche der Stille zeigt: Es gibt offenbar eine ernst zu nehmende Zahl von Menschen, die berührt und agil auf eine andere Raumaufteilung reagiert. Weiß die Gemeinde das? Kennt sie diese Menschen überhaupt?

  • Weitere Arbeitsfelder

Die Arbeit an der Gestalt des Gottesdienstes steckt in den Kinderschuhen. Person und Raum sind nur zwei von unzähligen Aufmerksamkeitspunkten, die man bedenken kann.

Weitere Themen – in Auswahl:

  • Die Sprache des öffentlichen Gebets – eine nahezu verwahrloste Zone
  • Die Sprache der Predigt im Kontakt mit Konfessionslosen (z.B. bei Kasualien) – es gibt keinerlei Ausbildung für diese Aufgabe
  • Die Kultur des Gebets außerhalb des Gottesdienstes – nur langsam entwickeln sich Anleitungen für geregelte ‚Spiritualität im Alltag‘, auf die der Sonntags-Gottesdienst angewiesen bleibt, weil er eine Spitzenform von geregelter Spiritualität  ist –  im Gegensatz zur Event- und Missionskultur
  • Die Logik von Gottesdienst-Teams –mehr Ehrenamtliche mögen gern mitmachen, aber wie installiert und organisiert man die auf der Mittelstrecke?
  • Die Logik von Gottesdiensten des sog. ‚zweiten Programms‘ – sie wachsen wild im gesamten deutschsprachigen Raum, aber was wird daraus? Und in welchem Verhältnis stehen sie zum Regel-Gottesdienst?
  • Die Instrumentierung der Musik –  Menschen fühlen sich von der Orgel erdrückt. Andere lieben sie. Was fördert den Gesang? Und vor allem welchen?
  • Die Predigt als Monolog wird gewünscht, gleichzeitig entstehen nicht ohne Grund andere Formen – Bibliolog, Interview, Anspiel, Gespräch, Meditation  usw. –  wie fügt sich die homiletische Phase im Gottesdienst im Jahrkreis in einen guten Wechsel-Rhythmus?
  • ‚Kirche aus dem Häuschen‘ –  die Kirche, die zu den Leuten geht, ist sehr beliebt und im Kommen – bis hin zur alten Hauskirche. Wer unterrichtet, wie das geht?
  • Die Praxis des Abendmahls ‚lüften‘  mit der bleibenden Aufgabe es aus der Zone der Sperrigkeit und Verkrampfung zu holen,  vielleicht sogar Ansätze einer vitalen eucharistischen Frömmigkeit zu wagen
  • Gottesdienst entwickeln, der lebende Menschen in den Mittelpunkt stellt, ihre Themen und ihre Kenntnis bzw Liebe zu etwas würdigt, haben eine starke Zukunft. Segnungen und Fürbitten würde eine Relevanz zwischen Gemeinde und diesen Menschen herstellen –  egal ob sie selber sich christlich verstehen oder nicht.

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